Lichtenbergs geraubtes Herz

aus: Lichtenberg

„Kleine niedrige Lehmhäuser mit dichten Strohdächern, eine düsterschattende Linde vor dem Tore, Räder, Deichseln, Latten den Eingang hemmend. Die Tracht war ländlich, kurze Jacke, lederne Hosen, bunte Nachtmützen; die Sprache plattdeutsch.“ So hat es laut dem Schriftsteller Karl Gutzkow um 1830 noch im Dorf Lichtenberg ausgesehen. Gerade mal 30 Jahre später sollte sich die Einwohnerzahl in nur einer Generation verfünffachen. Um 1920 sind zwischen der heutigen Landsberger Alle und der Josef-Orlopp-Straße der Siemens&Halske, die Margarinewerke Berolina, die AG Aceta, Großbäckereien und viele andere Betriebe ansässig.

Lichtenbergs Standortvorteile – Werksanbindung an das Schienennetz, billiges Bauland und Zugang zum Wasser – sorgen dafür, dass Lichtenberg auch nach der Demontage am Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin Industriestandort bleibt. Vor allem Betriebe wie die Berliner Gussstahlfabrik oder die Norddeutsche Kugellagerfabrik, die in die faschistische Kriegswirtschaft eingebunden waren, werden demontiert. Im Laufe der 50er Jahre entstehen dann in einem nicht reibungsfreien Prozess von Zusammenlegungen und Neueinteilungen die Volkseigenen Betriebe (VEB), allen voran der VEB Elektrokohle Lichtenberg, der VEB Fortschritt Herrenbekleidung, VEB Wälzlagerfabrik „Josef Orlopp“ und der VEB Bärensiegel. Allein in diesen vier Betrieben produzieren in den 1960 Jahren knapp 10.000 Lichtenberger Graphitelektroden, Mäntel, Kugellager und Schnaps. Bis 1990 wird die Lichtenberger Produktion noch um Möbel, Pappen, Öfen und unzählige andere Produkte erweitert werden. Doch dann ist mit der Wende Schluss. Der Ablauf ist für praktisch alle Betriebe in Lichtenberg der Gleiche: Verkauf an den Westen, „vorübergehend Kurzarbeit Null Stunden“, Einstellung der Produktion, Entlassungen, Schließung. Lichtenbergs Werdegang ist stellvertretend für die Industrie auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR. 150 Jahren haben die Lichtenberger gekämpft. Doch nach dem Raubzug der Treuhand blieb nicht viel übrig, worum es sich zu kämpfen lohnte. Die Betriebe gingen, die Menschen blieben, die Einkaufscenter kamen. 1997 formulierte der damalige Bezirksbürgermeister Lichtenbergs trocken:
„Der Deindustrialisierungsprozess ist nach der Privatisierung der Elektrokohle Lichtenberg weitgehend abgeschlossen. (…) 9 von 10 Industriearbeitsplätzen sind vernichtet. (…).“. Wird im Senat über die
Zukunft von Orten wie Neu-Hohenschönhausen oder Marzahn geredet, dann sprechen sie dort gerne von „Schlafstädten“. Man sollte sich einmal fragen, warum ein Ort leblos wirkt, wenn man ihm das Herz rausreißt. Politische Antworten, die den Stadtteilen unter die Arme greifen würden bleiben aus, denn in einer Wirtschaft, in der jeder Standort mit seinen Nachbarn in Konkurrenz steht, muss es nunmal Verlierer geben.