Pyro, Palästina, Protest – wenn Fußball politisch wird

Fußball – mehr als nur ein Spiel
Kaum ein anderes Wort löst so viele Assoziationen aus wie Fußball. Viele denken an ihre Kindheit zurück: an Nachmittage auf dem Bolzplatz, schrammige Knie und verschwitzte, dreckige Klamotten. Andere hören noch das Geschrei der Eltern beim ersten Bambini-Turnier oder erinnern sich an den Gänsehautmoment, als Mario Götze 2014 Deutschland zum Weltmeister schoss. Für viele ist Fußball vor allem: Bratwurst, Bier – und der ein oder andere verbale Ausrutscher Richtung Schiri. Diese Liste scheint unendlich und das ist auch gut so. Was all das verbindet, ist die Auffassung von Fußball als Spiel, als zweckfreies Tun – „90 Minuten Kopp aus“.
‚Politik‘ ist dagegen ein Begriff, der mit dem Fußball unvereinbar, gar verboten scheint. Reflexhaft wird die Phrase „Politik raus aus den Stadien!“ bemüht, wenn es darum geht, vermeintlich ‚linke‘ Positionen aus den Kurven zu verbannen. Politik im Fußball ist dann erst wieder ein Thema, wenn es um „rechte Rekrutierung“ in den Stadien geht (wie zuletzt in der Doku „Jung. Radikal. Organisiert“ des Berliner Journalisten mit „Schwerpunkt Extremismus“, dem Zionisten Julius Geiler). Die Beschäftigung ist dabei stets eine mit dem „Problem der Anderen“. Rechte im Fußball scheinen ein Randphänomen zu sein, eine Fehlentwicklung in der Kurve. Die Analyse wird gerne auf die Dynamik der Kurven, Fankultur generell und ein toxisches Männlichkeitsbild verkürzt. Was selten geschieht, ist, den Fußball in seiner Gesamtheit als Teil einer Gesellschaft im kapitalistisch-patriarchalen System zu fassen und zu kritisieren.
Marktkonformer Fußball: Im Griff des Kapitals
Der Begriff eines „unpolitischen“ Sports entspringt dabei nicht den realen Gegebenheiten, sondern unter anderem den Theorien Carl Diems, einem Mitbegründer der bürgerlichen Sportwissenschaft und NS-Funktionär. Er stellt den Sport in ein antagonistisches Verhältnis zur Arbeit (Diem 1960), die er dementsprechend richtigerweise als zweckmäßige und bewusste Tätigkeit wahrnimmt. Dem entgegen steht die Theorie des Bewegungswissenschaftlers Kurt Meinel, der ab 1950 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig, DDR, lehrte. Er schreibt: „Die menschliche Motorik ist in ihrer spezifischen Eigenart ein Produkt der Arbeit. Alle Bewegungsformen und Bewegungsrhythmen prägte der Mensch in diesem Prozess der Existenzsicherung durch Arbeit.“ (Meinel 1975). Also: Die Produktionsverhältnisse bestimmen unser Leben, Denken und Tun; oder: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein. Im Kapitalismus ist auch Fußball nicht zweckfrei. Mindestens dient er der Vermittlung von Herrschaft.
Doch heute hat sich in der marxistischen Wissenschaft, die sich mit dem Sport beschäftigt, der Begriff des ‚marktkonformen Fussballs‘ durchgesetzt, der den Fußball darüber hinaus als Teil der Produktionssphäre, eingebettet in die kapitalistische Produktion, einordnet. Einer dieser Wissenschaftler ist der Kommunist Raphael Molter, Mitglied des Instituts für Fankultur und selbst Fußballfan. Am 12.04.25 hielt er mit dem Fan und Ultra Mathias Dehne einen Vortrag zur Palästinasolidarität im Fußball „weltweit – und in Deutschland?“ im Café Wostok des Stadtteilkomitee Lichtenberg.

Show ‘Israel’ the Red Card – wie Fans weltweit Haltung zeigen
Unter dem Slogan „Show ‘Israel’ the Red Card“ findet derzeit die global größte Solidaritätsaktion mit dem palästinensischen Volk statt. Initiiert haben sie die Ultras der Green Brigade des irisch-schottischen Fußballvereins Celtic Glasgow. Weltweit haben derzeit mindestens 224 Aktionen von Fans von über 173 Vereinen stattgefunden. Davon jedoch lediglich vier in Deutschland. Vor allem die Fans des FC Carl Zeiss Jena, einem Viertligisten, machen es der übrigen Fanlandschaft vor. Selbst vermeintlich „linke“ Vereine wie der FC St. Pauli fielen seit dem 7. Oktober 2023 eher negativ auf und solidarisierten sich mit Israel.
Die Kampagne mit dem griffigen Namen fordert etwas vermeintlich Einfaches: die Einhaltung der vom Weltfußballverband FIFA sich selbst gegebenen Regeln, nämlich den Ausschluss des israelischen Fußballverbands wegen Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, also des Begehens eines Völkermords – wie es 2022 direkt mit dem russischen Fußballverband geschah, nachdem russische Truppen offiziell die Ostukraine besetzten. Diese Forderung mag lächerlich simpel erscheinen, doch so einfach ist es nicht.
Geht man mit Carl Diem, so mag man es vielleicht total unverständlich finden, dass der neutrale Sport so überhaupt nicht neutral handelt. Doch gehen wir lieber mit einem materialistischen Verständnis und begreifen den Sport als durch die unser Leben bestimmenden Produktionsverhältnisse, also den Kapitalismus, geprägt – der Sport ist politisch, denn er ist Teil unserer Gesellschaft. Der Kapitalismus in seiner heutigen Form ist ein imperialistisches Monster, das zum Krieg tendiert. Ist nun der Sport Teil des imperialistischen Kapitalismus, so unterwirft er sich seinen Dynamiken.
Die globale Weltordnung lässt sich vereinfacht einteilen in ein imperialistisches Zentrum – Europa, Nordamerika, Australien – und eine Peripherie – die ehemaligen Kolonien. Israel, als Siedlerkolonialstaat (mehr dazu hier), gehört zu diesem Zentrum (Lauesen 2016).
Im Zentrum sitzt die globale Finanz-, Kapital- und auch politische Macht. Hier sitzt auch der Weltverband FIFA, und er ist ein milliardenschweres Unternehmen. Die Sicherung des Imperialismus bedeutet die Sicherung seiner selbst.
So lässt sich nun erklären, warum die FIFA so handelt und den israelischen Staat nicht ausschließt, doch warum fordern so viele Fans weltweit genau das? Handelt es sich hier um „Gutmenschen“, die den Sport instrumentalisieren? Nein.
Wir haben nun die FIFA richtigerweise im imperialistischen Zentrum verortet. Dazu gehört natürlich auch Deutschland, und so verwundert die Missachtung, die der Genozid an den Palästinensern hierzulande erfährt, eigentlich wenig. Was nun die übrigen Fußballfans weltweit hauptsächlich verbindet, ist die Erfahrung des Kolonialismus. Immer wieder stellen die Anhänger von Celtic das als zentral verbindendes Element heraus (wie in der Doku „Why Celtic Football Club Supports Palestine“ 2023). Und in der Tat ist es so, dass einer der größten Genozide in der modernen Menschheitsgeschichte der am irischen Volk war – die in der bürgerlichen Erzählweise gerne auf Missernten zurückgeführte ‚Hungersnot‘ der 1840er Jahre brachte über eine Million Menschen, rund 12 % des irischen Volkes, ins Grab; sie wäre zu verhindern gewesen, doch wurde sie vom englischen Regime nicht nur hingenommen, sondern gar gern gesehen (Pittler 2022). In ihrer Folge verließen viele Iren die Insel, auch nach Schottland. Der Celtic FC ist ein Verein der irischen Migrant:innen in Glasgow, seine Existenz liegt in diesem Genozid begründet.
Jahrhundertelang mussten sich die Iren gegen die englischen Unterdrücker wehren. Noch heute sind sie eine gespaltene Nation. So ist die Forderung „26 + 6 = 1“ nach Vereinigung der 26 irischen und der 6 nordirischen Counties zu einem freien Irland heute aktueller denn je. Zum ersten Mal in der Geschichte leben mehr Iren als Briten in Nordirland.

Fans gegen Unterdrückung: Zeit sich zu wehren!
Darum verwundert es nicht, dass die Green Brigade nicht erst seit dem 07. Oktober fest an der Seite der Palästinenser:innen steht. So liefen seit 2016 Vorbereitungen zur Eröffnung einer Fußballakademie in der West Bank, die 2023 in Betrieb genommen werden konnte. Sie trägt den Namen „Lajee Celtic“. Dem vorausgegangen war ein Spiel des Vereins auf israelisch besetztem Territorium, bei dem die Anhänger Celtics Palästinafahnen zeigten – ein verbotener Akt. Es folgte eine Geldstrafe, die durch eine Spendenkampagne abgezahlt werden sollte. Dabei kamen weit mehr Gelder als benötigt zusammen, die dann die Basis für das langfristige Solidaritätsprojekt bildeten. Spruchbänder zur aktuellen politischen Situation im Nahen Osten und die Flagge Palästinas gehören also schon lange vor 2023 zur Celtic-Fankultur. Immer wieder reisen die Ultras der Green Brigade nach Palästina, organisieren Freundschaftsspiele und pflegen eine enge Verbindung mit ihrem Solidaritätsprojekt.
Von den Celtic-Anhängern initiiert, haben sich mittlerweile viele Fans weltweit der Kampagne angeschlossen – darunter vor allem solche von Vereinen aus den ehemaligen Kolonialgebieten.
So auch die Ultras Black Army 2006 von FAR Rabat aus Marokko. Sie entrollten am 4. Januar dieses Jahres ein Banner, auf dem die Worte „NIE WIEDER IST JETZT IN GAZA“ zu lesen waren. Nein, hierbei handelt es sich um keine Übersetzung. Diese Worte standen da genau so – auf Deutsch. Die Botschaft ist eindeutig, und sie richtet sich nicht nur gegen diejenigen deutschen Ultra-Gruppen, die sich dazu hinreißen ließen, Solidaritätsbekundungen mit den israelischen Geiseln in der Kurve zu präsentieren, nicht aber ein Wort zu den zehntausenden ermordeten Palästinensern verloren. Sie ist auch ein Vorwurf an all jene Ultras und Fußballfans im Land, das den Holocaust verbrach, die sich immer noch nicht öffentlich zum Genozid positionieren.

Dabei muss man kein Marxist sein, um zu sehen, warum eine Positionierung und eine öffentliche Kritik am globalen Fußballgeschäft eine Notwendigkeit für jeden Fußballfan und sportinteressierten Arbeiter darstellt. Was bei der WM in Katar 2022 schon offensichtlich wurde und viele Fußballbegeisterte dazu veranlasste, dieses Turnier zu boykottieren, ist die Vernichtung von Menschenleben rund um den Sport.
Im Fall Israels geht es nicht nur um ausbeuterische Arbeitsbedingungen, die Menschenleben kosten, sondern um die Vernichtung von allem Palästinensischen – auch Sportstätten und Kultur.
Doch weiter noch: Israel verwendet den Sport aktiv zur Legitimation seiner Kolonialpolitik. Vor wenigen Tagen veröffentlichte der palästinensische Fußballverband einen Bericht, in dem er von neun illegalen Sportvereinen berichtet, die in der besetzten West Bank, also auf palästinensischem Gebiet, operieren. Ziel bei solchen Aktionen ist stets, die illegalen Siedlungen der Israelis auf palästinensischem Boden zu legitimieren. Man versucht, Fakten zu schaffen. Gleichzeitig wird es Palästinensern durch die Struktur der Siedlungsgebiete in der West Bank verunmöglicht, in ihren Vereinen aktiv zu sein. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass es mir eine Mauer durch mein Dorf erschwert, von der einen auf die andere Seite zu kommen. Dennoch gibt es Stimmen in der BRD, die das Apartheidsystem als Ganzes abstreiten. Auch die illegalen israelischen Klubs verstoßen gegen die Regeln der FIFA – und weit mehr als das: Die olympische Charta und das Völkerrecht. Doch anstatt zu sanktionieren, unterstützen BRD und FIFA weiterhin den Genozid.
Das dürfen wir nicht hinnehmen. Es braucht eine breite Bewegung von Fußballfans, Arbeiter:innen und Sportbegeisterten. Der Sport gehört uns – nicht den Verbänden oder Staaten, die nur die Interessen einer kleinen Minderheit vertreten.
Es ist an jedem Fußballfan, an allen Arbeiter:innen, gegen diese Ungerechtigkeiten, gegen den Genozid an den Palästinenser:innen aufzustehen. Denn eines ist klar: Wir haben nichts zu gewinnen in dieser Welt, die gegen unsere Interessen geordnet ist. NIE WIEDER IST JETZT IN GAZA!
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Journalismus mit Klassenstandpunkt