Sonnenallee: Zwischen Repression und Widerstand
Ayed, ein älterer Mann, sitzt in seinem Stammcafé an der Sonnenallee, raucht und trinkt einen Kaffee. So trafen wir ihn, als er uns von seinen Erfahrungen der letzten Monate seit dem 7. Oktober erzählte. Und genau so hat ihn auch die Polizei angetroffen, wenige Wochen nach dem 7. Oktober: am selben Tisch sitzend, mit Kippe und Kaffee. Drei Polizisten stellen sich ihm gegenüber und fordern, dass er nach Hause gehen soll. Der Grund? Er trägt eine Kuffiyah. Diese Tatsache genügt der Polizei, um zu entscheiden, dass er als arabisch gelesene Person als Bedrohung für den öffentlichen Raum gilt.
In den Straßen Neuköllns, entlang der Sonnenallee, hallt seit Monaten der Ruf nach Solidarität mit Palästina wider: „Demonstration auf der Sonnenallee immer und überall“. Wo wir uns die Straßen nehmen, steht uns die Polizei stets gegenüber. Dabei ist diese Repression gegenüber Palästina-Solidarität nichts Neues und existierte bereits Jahre vor dem 7. Oktober. Doch seitdem hat die Repression eine neue Dimension erreicht.
Angefangen mit einem Übergriff eines Lehrers auf einen Schüler an einer Neuköllner Schule, der eine Palästina-Flagge trug, wurden Symbole wie die Kuffiyah oder die palästinensische Flagge an Schulen verboten. Die Versuche, Demonstrationen zu unterdrücken, erwiesen sich in den vergan-genen Monaten als vergeblich. Woche für Woche strömen Menschen auf die Straßen, um für die Freiheit Palästinas zu kämpfen. Dabei kam es kontinuierlich zu brutalen und willkürlichen Fest-nahmen, selbst die Jüngsten unter ihnen, kaum 9 Jahre alt, blieben davon nicht verschont.
Nicht anders sah es in der Sonnenallee zu Silvester aus. Mit Kontrollen alle 50 Meter wurden erneut die Grenzen dessen getestet und ausgeweitet, was an staatlicher Kontrolle möglich ist. Linke und migrantische Orte wie das Karanfil oder das Oyoun werden unter dem Vorwand der Terrorismus-bekämpfung durchsucht oder schlichtweg die Finanzierung von einem Tag auf dem anderen entzogen.
Gleichzeitig existiert medial eine unerbittliche und rassistische Hetze gegen jede Form von Palästina-Solidarität, die einseitig als Judenhass dargestellt wird und versucht, jüdische Personen und Palästinenser:innen gegeneinander auszuspielen. Diese Propaganda sät Verunsicherung und erschwert es auch der breiteren Bevölkerung, eine klare Position zu finden und sich solidarisch mit dem Kampf für eine freies Palästina zu zeigen.
Dahinter wird eine klare politische Agenda des Staats sichtbar. Die Dauerpräsenz der Polizei an der Sonnenallee wird unter dem Deckmantel eines „Sicherheitsgefühls“ gerechtfertigt, doch sie ver-schweigen wessen Sicherheit dabei gemeint ist. Tatsächlich ist es augenscheinlich: Der ständige polizeiliche Überwachungszustand führt zu verstärkten rassistischen Kontrollen, Schikanen und letztlich zur Verdrängung. Dadurch wird nicht nur der Rassismus genährt, der eine unverzichtbare Stütze der deutschen Abschiebepolitik ist, sondern es dient auch der „Aufwertung“ unserer Kieze und der Vertreibung ihrer Anwohner:innen.
Wir dürfen nicht vergessen, Repressionen betreffen früher oder später jede:n von uns. Die Sonnen-allee ist nicht nur eine Straße, sondern ein Schauplatz des Widerstands und des Protests. Auf den Mauern, in Tags, Graffitis und auf Plakaten manifestiert sich der Wunsch für ein freies Palästina und für eine andere Welt. Trotz Verboten und Kriminalisierung organisieren wir uns weiter, denn Polizei und Staat schützen uns nicht – das müssen wir selbst tun!
Die Anekdote von Ayed, der von der Polizei ohne Begründung auf- gefordert wurde, das Café zu verlassen, erzählte er uns auf einem unserer Rundgänge durch den Kiez. Wir fragten, wie er darauf reagiert hat: „Nicht mal mein Vater hat mir mehr zu sagen, wann ich nach Hause gehen muss. Natürlich bin ich sitzen geblieben!“