Zusammenfassung und Auswertung unserer Veranstaltung am 12.07.24 in der Roten Lilly
Flucht und Vertreibung nur ein Mythos? Die Broschüre „Mythos Israel 1948“ im Faktencheck.
Im Februar 2024 hat die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) beschlossen, die Broschüre „Mythos Israel 1948“ des Vereins Masiyot an Neuköllner Schulen zu verteilen. Wie es dazu gekommen ist und welche Kritiken es an dieser Broschüre gibt, haben wir mit Lehrer:innen und Schüler:innen diskutiert.
Vor dem Hintergrund des Genozids in Gaza und der anhaltenden Repressionen gegenüber jeder Form von Protest in Berlin ist es wichtig, dass an Schulen geschichtliche Fakten zum Nahostkonflikt korrekt und aus verschiedenen Perspektiven vermittelt und Räume für die (betroffenen) Schüler*innen geschaffen werden. Bei dieser schwierigen Aufgabe sollte die Politik die Schulen unterstützen. Stattdessen hat die CDU in der BVV Neukölln im Februar beantragt, die Broschüre „Mythos Israel 1948“ in den Sekundarschulen des Bezirks einzusetzen, was von der SPD aufgegriffen und gegen die Stimmen der LINKEN und Grünen verabschiedet wurde.
Auf unserer Veranstaltung berichteten Lehrkräfte verschiedener Schulen, das es sehr schwer bis unmöglich ist, an den Schulen eine offene Diskussion zum Thema Palästina/Israel zu führen. Die mediale Hetze oder der Brief1 der Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) haben eine extrem angespannte Situation geschaffen, statt den Raum für Diskussionen und Austausch zu öffnen. Viele Kolleg:innen sind nicht tief im Thema drin, trauen sich selbst keine Meinung zu und sind darauf angewiesen, Infomaterialien von der Politik zu erhalten.
Schulen haben offiziell den Auftrag, Themen aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen, damit die Schüler:innen sich selbst eine Meinung bilden können. Doch wie weit gehen „Perspektiven“, wo fangen ganz einfach Lügen an? Es gibt die Meinung, dass die Erde eine Scheibe ist, aber (fast) niemand wird ernsthaft fordern, das als eine legitime „Perspektive“ an Schulen zu unterrichten.
Zur Bewertung der Broschüre „Mythos Israel 1948“ haben wir den Inhalt auf unserer Veranstaltung vor allem mit Texten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und dem Auswärtigen Amt verglichen. Diese Texte geben in vielen Punkten unsere eigene Meinung zum Thema Palästina/Israel nicht wider, aber wir haben uns dazu entschieden, da beide Institutionen nicht im Verdacht stehen, linksradikal zu sein.
Drei Probleme
Im Vortrag wurde am Beispiel einiger Textpassagen gezeigt, das die Broschüre aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht dafür geeignet ist, an Schulen verteilt zu werden. Unabhängig vom Inhalt ist der Text erst einaml rein wissenschaftlich auf einem schlechten Niveau geschrieben. Es fehlen vernünftige Quellenangaben und die Nachprüfbarkeit der Behauptungen ist nicht möglich. Dazu kommt, das der Text sprachlich überhaupt nicht für Schüler:innen ausgelegt ist. Der Verein selbst sagte gegenüber der taz: „Die Broschüre war nie dazu gedacht, sie an Schulen zu verteilen.2“
Auch politisch ist das Vorgehen innerhalb der Neuköllner BVV mehr als fragwürdig. Denn Bildung ist Landessache, die BVV spricht normalerweise keine Empfehlungen an Schulen aus. Deshalb bleibt es den Schulen überlassen, ob sie die Broschüre nutzen und der Neuköllner SPD ist das bewusst. Man könnte sagen zu Recht sagen, das es hier auch teilweise um Symbolpolitik geht. Dann stellt sich aber die Frage, warum das jetzt, zu diesem Thema und gerade in Neukölln passiert?
Das schwerwiegendste Problem ist der Inhalt dieser Broschüre. Kurz zusammengefasst tauchen in ihr „die Araber:innen“ in der Regel nur als böse, gefährliche Terroristen auf, die Nakba wird kurzerhand zur „freiwilligen Aussiedlung“, ethnische Säuberungen zionistischer Milizen hat es fast gar nicht gegeben und wer bspw. behauptet, das Israel Landraub begeht, verbreite damit Antisemitismus. Zum „Mythos“ der Nakba sagte der Verein zur taz: „Uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es keine systematische Vertreibung war.3“
Das ist besonders absurd, denn selbst rechtsextreme israelische Siedler und Wissenschaftler:innen leugnen diese Tatsache nicht – im Gegenteil zeigten wir im Vortrag, wie offen sie über ihre damaligen Ziele und Taten reden. Besonders interessant und berührend war der Vergleich mit den Erinnerungen der jüdischen Holocaust-Überlebenden und Antifaschistin Esther Bejarano. Sie emigrierte 1945 nach Palästina, um dort gegen die Briten zu kämpfen. Entsetzt über die israelische Politik gegenüber den Palästinenser:innen verließ sie aber das Land Ende der 1950er Jahre wieder.
Insgesamt wurde durch die Gegenüberstellung der Broschüre mit verschiedenen anderen Quellen deutlich, wie geschichtsverfälschend und schlicht gelogen viele Passagen der Broschüre „Mythos Israel 1948“ sind. Der Inhalt vermittelt ein vollkommen falsches Narrativ, es verharmlost und leugnet die Ereignisse von 1948 sowie die anhaltende Vertreibung und Enteignung der Palästinenser:innen durch Israel.
Warum genau diese Broschüre?
Vielleicht ist eben genau das Teil der Intention der CDU und SPD, die Broschüre in Neukölln zu verteilen. Hier lebt die größte palästinensische Community Europas, die seit dem 07. Oktober fast täglich gegen den Genozid in Gaza demonstriert. An Neuköllner Schulen leben überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche aus palästinensischen Familien, die sich mit ihren Symbolen den autoritären und zutiefst undemokratischen Anweisungen der Bildungssenatorin widersetzen. Auch unter den Lehrkräften und Sozialarbeiter:innen sind viele Menschen mit Migrationshintergrund, einige selbst in Neukölln aufgewachsen und aus palästinensische Familien.
Die Broschüre ist ein offener Schlag ins Gesicht dieser Menschen, eine offensichtliche Provokation und ein Angriff auf die palästinensische Community. Es überrascht uns nicht, aber inhaltlich ist das dennoch eine neue Eskalationsstufe von Seiten der SPD und CDU. Für die Verbreitung der Broschüre sind sie sogar bereit, die festgelegten Zuständigkeiten zwischen dem Land und dem Bezirk zu missachten. Wären nun andere Parteien im Berliner Senat, würden sie zumindest das Vorgehen skandalisieren. Aber die Berliner CDU und SPD im Abgeordnetenhaus greifen natürlich nicht ihre eigenen Leute an, im Gegenteil haben sie bereits ihr Interesse ausgesprochen, nach den Sommerferien die Broschüre in ganz Berlin zu verteilen.
Das zeigt umso mehr, das es hier nicht einfach „nur“ um einen Angriff auf die palästinensische Community geht, sondern gleichzeitig auch auf progressive und linke Meinungen allgemein. In den letzten Monaten wurden so viele (angebliche) Grundrechte mit Füßen getreten und jegliche, noch so kleine, Palästina-Solidarität mit massiver Repression überzogen. Jetzt kommt diese Broschüre im Kampf um die Deutungshoheit in den Köpfen zum Einsatz. Man muss nicht links sein, um beim Inhalt und dem Vorgang der Verbreitung der Broschüre hellhörig zu werden, denn Menschenverachtung und autoritäre Politik treffen irgendwann uns alle!
Wer erzählt Lügengeschichten?
Zum Schluss noch ein paar Worte zum Herausgeber der Broschüre. Der Verein Masiyot (hebräisch für „Lügengeschichten“) wird in den Medien gerne als „Neuköllner Verein“ verniedlicht, der doch nur Bildungsarbeit im Kiez machen wolle. Der Vereinssitz ist die anti-deutsche „Programmschänke Bajszel“, deren Betreiber – und Mitherausgeber der Broschüre – Alexander Carstiuc ist. Einige Vereinsmitglieder und Autoren der Broschüre hatten zeitweise hochrangige Beratungsposten in der israelischen Regierung inne. Und die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balcı (SPD) ist regelmäßig für Vorträge in der Schänke und bei Veranstaltungen von Masiyot. Kurz gesagt: Der Verein ist eine gut aufgestellte Lobbyorganisation, die rechts-zionistische Positionen verbreitet. Das steht symbolisch genau so sehr für Neukölln, wie Israel für alle Juden und Jüdinnen auf der Welt – nämlich gar nicht.
Im Gegensatz dazu haben wir uns sehr gefreut, das zahlreiche Lehrkräfte und Schüler:innen aus unseren Kiezen bei unserer Veranstaltung waren. Nach dem Vortrag haben wir uns noch lange gemeinsam ausgetauscht und untereinander vernetzt. Die Veranstaltung zur Broschüre war für uns deshalb ein erster, kleiner Erfolg. Denn wir müssen uns wehren, gemeinsam Druck in den Schulen aufbauen und die Verbreitung dieser Broschüre verhindern. Alle die das mit uns in Neukölln machen wollen, laden wir herzlich ein, zu unserem zwei-wöchentlich am Dienstag stattfindendem Palästina-Cafe in der Roten Lilly zu kommen.
1https://www.tagesspiegel.de/berlin/stellt-gefahrdung-des-schulfriedens-dar-bildungssenatorin-verbietet-palastinensertucher-an-berlins-schulen-10620655.html
2https://taz.de/Broschuere-zur-Staatsgruendung-Israels/!6007778/
3https://taz.de/Broschuere-zur-Staatsgruendung-Israels/!6007778/